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noraengelbert

Wie erfahren wir Klarheit und Entfaltung im Alltag?




Klarheit und Entfaltung – mein Motto und Mantra für 2024.

Der dritte Monat des ersten Quartals hat begonnen. Bisher hat das Jahr gehalten, was das Mantra versprach. Mir wurde wieder bewusst, dass nichts mehr Klarheit bringt als der Tod. Denn der Tod lügt nicht. Er offenbart mit all seiner Macht Fakten und bringt Wahrheiten ans Licht. Und das wirft die Frage auf, wie wir es schaffen können, schon vor der schmerzhaften Begegnung mit der äußersten Grenzerfahrung, dem äußersten Extrem der Begrenzung unseres physischen Lebens, die Klarheit zu erhalten, die wir für unsere freie Entfaltung, Liebe und Lebendigkeit im Hier und Jetzt brauchen.


Wir Menschen finden Klarheit, wenn wir uns ehrlich machen. Wenn wir uns – um mit C.G. Jung zu sprechen, unserem inneren Schatten stellen und ihn in seiner Wahrhaftigkeit erkennen. Wenn wir uns unsere eigene Verletzlichkeit vor uns selbst eingestehen und uns selbst in Liebe und Offenheit begegnen. Und, wenn wir uns trauen, mit dieser Offenheit auch allem und allen um uns herum zu begegnen, mit dem wir ohnehin stets verbunden sind.


Wenn wir uns verletzlich machen und einander zeigen und erkennen, haben wir die Basis für gesunde Beziehungen gelegt. Für gesunde Wurzeln und gesunden Nährboden für uns selbst und alle um uns herum. Wir können aus Selbstschutz noch so große Mauern um uns herum aufbauen; die Tatsache, dass alles miteinander verbunden ist, lässt sich auch durch unsere Versteckens-Versuche nicht leugnen. Durch den Versuch, unsere Wunden, unsere vermeintlichen Schwächen und unsere Verletzlichkeit zu verstecken, vergrößern wir nur unser Leid und damit auch das Leid um uns herum. Wir haben also keine andere Wahl als dem natürlichen Fluss unseres offenen Herzens zu folgen, wenn wir denn gesund, glücklich und in Seelenfrieden leben wollen.


Als Landarzttochter und Landarztenkelin waren Krankheit und der Tod immer allgegenwärtig inmitten meines Elternhauses. Durch die Kulturanthropologie lernte ich nicht nur verschiedene Blickwinkel auf den Umgang mit unserer Sterblichkeit kennen, sondern auch vielfältige Formen, unser Leben als Mensch zu leben und mit allem in Verbindung zu treten und physische und seelische Wunden zu heilen. Und ich lernte, dass uns auch in all unserer Vielfalt mehr eint als uns unterscheidet. Und genau deshalb können wir alle voneinander, miteinander und füreinander lernen und alles spricht dafür, dass wir diese Chance ergreifen sollten.


Erben und die Macht der Narrative in Familie, Gesellschaft und Unternehmen

Als Menschen haben wir für das voneinander, miteinander und füreinander Lernen viele Kanäle, Ausdrucks- und Vermittlungsformen zur Verfügung.

Ich lernte früh die Macht der Narrative und des Erzählens kennen. Ich lernte und lerne immer noch wie wir als Geschichten erzählende Wesen, unsere Realitäten erschaffen und Krieg und Frieden in unserer Macht liegen – durch die Wirksamkeit eben dieser Narrative – die wir uns selbst und als Gruppe(n) erzählen.

Im christlich geprägten Europa aufgewachsen, haben mich früh die Narrative der abrahamitischen Religionen geprägt. Die „Erbsünde“ ist eines der ältesten Narrative und eine symbolträchtige Erzählfigur. Kurz drauf gab es den „ersten Brudermord“, weil sich der eine weniger geliebt fühlte als der andere. Entzündet hat sich dieser anhand verschiedenartiger Weisen der Nahrungsmittelbeschaffung und Wirtschaftsformen.

Um diese Art der Brutalität einzudämmen oder gar zu verhindern, schufen wir über die Jahrtausende neue Narrative und differenzierten unsere Systeme immer weiter aus. Diverse Rechtssysteme, religiöse Systeme, Philosophien und Wirtschaftssysteme sowie die Medizin und die Nahrungsbeschaffung wurden immer ausdifferenzierter, um die immer komplexer werdenden Beziehungen innerhalb von und zwischen Gesellschaften im bestmöglichen Sinne zu regulieren. Die Hoheit und somit Macht über diese Narrative wurden Institutionen und ihren Autoritäten übertragen, die dem Schutz des einzelnen und der Gruppe dienten – zumindest in der Theorie.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie internationale Organisationen wollten in den vergangenen Jahrhunderten die überkommenen Machtverhältnisse zugunsten aller Menschen ändern, verstrickten sich jedoch in eigene Dynamiken die ihrerseits dem Verschleierungsversuchs von alten Wunden entsprangen und zu fehlender Klarheit und fehlender Ehrlichkeit führten.

Und somit werden noch heute viele Kriege geführt, die auf dem Muster von „Erbwunden“ aufgebaut sind. In Zeiten großer Transformationen, wie der unsrigen, entstehen neue Narrative und der Streit um die Deutungshoheit wird in der Wahrnehmung mancher in einem neuen „Kulturkampf“ ausgetragen.

Die Erbschaftssteuer wird heiß debattiert, in der Hoffnung, hier einen Hebel in der Hand zu haben, der, richtig umgelegt, zu mehr gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeit führt.  

Das „koloniale Erbe“ ist ein anderer wirkmächtiger Erzählstrang, der, je nach Auslegung, heutige Opfer und Täter identifiziert und neu(e) kreiert.

Vieles, was wir als Spezies von unseren Vorfahren geerbt haben, sind kollektive Traumata, die noch heute in unserem Sein, unserer Wahrnehmung, unseren Narrativen und Handlungen nachwirken.

Deutschland und Frankreich, die glaubten, ihre „Erbfeindschaft“ nach dem Tod Karls des Großen in der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft / EU überwunden zu haben, verstricken sich dieser Tage erneut in Kommunikations- und Verständigungsprobleme.


Was wir im Alltag tun können

Es liegt in der Verantwortung jeder Generation und jedes einzelnen, die geerbten Traumata wahrzunehmen, zu erkennen und zu heilen, um sie nicht an die folgenden Generationen weiterzutragen. Das gilt in Familien genauso wie in Kommunen, Unternehmen und der Weltpolitik. Hier haben wir alle noch viel zu lernen.


Panta en pasin. Alles ist mit allem verbunden. Wie Yggdrasil – der Weltenbaum – die Welten verbindet, so verbinden wir als Bindeglied auch all die Welten, in denen wir uns bewegen. Und was wir in unseren Familien lernen, können wir auch im Business Kontext anwenden und andersherum. Denn auch im Projektalltag fügen wir uns in Interaktionen bewusst und noch vielmehr unbewusst Wunden zu. Wir verletzen einander, auch wenn wir uns oft unsere eigene Verletzlichkeit nicht eingestehen wollen und dem jeweils anderen niemals (absichtlich) wehtun wollten. Es passiert trotzdem. Auch diese Verletzungen und Belohnungen werden wie ein Erbe – in Form von Beförderung/Gehaltserhöhung oder deren Ausbleiben – weitergetragen. Als eine Art „Erbe“ liegt hierin erneutes Verletzungs- und Konfliktpotenzial verborgen.


Ein häufig gewähltes Mittel, um nicht verletzt zu werden, sind auch in diesem Prozess Schutzmauern. Bauen wir Schutzmauern um uns herum auf, mit dem hehren Ziel, nicht verletzt zu werden, haben die Wunden keine Chance zu heilen und wir agieren aus Angst und Abwehr heraus. Somit verhindern wir Verbindung und den freien Fluss von Ideen, Kreativität und Zukunftsvisionen und deren Realisierung. Der durch Schutz alter Wunden hervorgerufene Widerstand bildet einen der Hauptgründe für Kommunikations-schwierigkeiten und führt meist zu Stillstand. Wir stehen uns und unserer positiven Zukunft also selbst im Wege.


Wenn Menschen in Unternehmen ihre Wunden nicht heilen und stattdessen Schutzwände oder, alternativ, offen klaffende Wunden mit sich herumtragen, „eitern“ die Wunden und der Schmerz wird größer und größer. Durch diesen Prozess erkrankt nach und nach die gesamte Unternehmenskultur und die freie Entfaltung von Potenzial, Kreativität, Leistung und Produktivität kommt ins Stocken und wird verhindert. Das Unternehmen ist nicht mehr lebendig und nicht mehr wettbewerbsfähig.


Unternehmen, die sich in der dynamischen Welt von VUCA und BANI – oder einfach dem Leben in seiner unkontrollierbaren Lebendigkeit – behaupten wollen und sich, ihre Kunden und ihre Mitarbeitenden in eine prosperierende Zukunft tragen wollen, brauchen also eine Kultur der Wundheilung auf jeder Ebene des zwischenmenschlichen Miteinanders (und wie uns der Blick auf die Physik, Chemie und Biologie zeigen auch über das zwischenmenschliche hinaus).


Projektteams und Abteilungen sollten also dazu angehalten werden, genau hinzuschauen, wann wer durch Verhalten der anderen oder durch eigenes Zutun verletzt wird und so der Flow im (Projekt-)Alltag zum Stocken gerät. Zeitgleich sollte jeder einzelne von uns dazu enabled werden, dieses Stocken und die Hindernisse selbstwirksam und im Sinne eines self-managed Teams, aufzulösen und den Flow – das freie Fließen – wieder zu ermöglichen.

So gelebt, kann auch der Kapitalismus und Neo-Liberalismus in der Verkörperung von Unternehmen (Korporation) – dazu beitragen, gesunde Kulturen in lokalen und weltweiten Niederlassungen zu etablieren und zu pflegen.


Selbstverantwortung, Selbstreflexion und self-management oder auch Selbstregulation sind zentrale Elemente unserer heutigen Zeit und von New Work und der agilen Arbeitswelt. Wir sind keine Leibeigenen (mehr) und wollen als selbstbestimmte Wesen in demokratischen Strukturen auch keine mehr sein. Jedenfalls viele von uns nicht. Doch wir müssen alle lernen und hart daran arbeiten, diese Selbstverantwortung und Selbstregulation selbstwirksam ausüben zu können. Wir müssen sie praktizieren und pflegen.


Betrachten wir die historische Dynamik der Ausdifferenzierung der regulierenden Systeme, ist es nicht verwunderlich, dass wir einerseits beim Individuum und dessen Selbstverantwortung angekommen sind. Genauso wenig verwunderlich ist es, dass zeitgleich mit der Ausdifferenzierung (also dem Pull-Faktor auf der einen Seite der Dimension) das Bewusstsein für die Interkonnektivität – der Verbundenheit von allem mit allem – auf allen Ebenen (als Pull-Faktor auf der anderen Seite der Dimension) immer größer wird. Wir selbst befinden uns im Spannungsfeld dieser Dimension und können den Raum, der sich hier auftut, selbst-bewusst und eigenverantwortlich ausgestalten.


Einzig eine kollektive Antwort darauf und Vision dafür, wie wir mit unserer Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Interkonnektivität angstfrei und somit im freien Fluss umgehen wollen, fehlt uns noch.


Und wo finden wir die Ruhe, um die Klarheit für diese Vision zu erhalten, wenn nicht in den Momenten, in denen wir auf uns selbst zurückgeworfen werden? Ja, der Tod ist solch ein Moment, der uns auf uns selbst zurückwirft; der uns Klarheit gibt. Der Tod zwingt uns zum Abschied. Zum Loslassen. Zur Abkehr von gemeinsamen Zukunftsträumen im Diesseits und letztlich zur Einkehr und zum Vertrauen in die Liebe, die uns mit allem verbindet.

Doch braucht es immer das Äußerste, das Extrem des Todes, um Klarheit zu erhalten und die Bedeutung von Liebe zu erkennen?

Nein. Denn, wenn wir schon vor der Begegnung mit dem Tod bewusst innehalten und in die innere Einkehr gehen, finden wir auch die Stille und die Klarheit, die uns den Weg in die Verbundenheit, die Liebe, den freien Fluss und die Co-Creation zeigt.


In diesem Sinne ermutige ich uns alle, auch im Alltag bewusst in die Stille zugehen und uns unserem Erbe, unseren Wunden und deren Heilung zuzuwenden, damit wir gemeinsam eine positive Zukunft co-creieren können.

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